Kapitel 1 – Das flackernde Bild
Ein verregneter Sonntagabend. Dschordschi saß im Wohnzimmer, eine warme Decke über den Beinen, die Kinder spielten im Nebenzimmer, und auf dem Fernseher lief eine alte Dokumentation über die Anfänge des Internets. Die Welt wirkte friedlich – beinahe zu ruhig.
Als plötzlich das Bild kurz flackerte.
Kein großes Ereignis, kein Knall – aber Dschordschi, Mathematiker mit geschärftem Instinkt, spürte sofort: Hier stimmt etwas nicht. Die Aufzeichnung, die er schon mehrfach gesehen hatte, zeigte plötzlich neue Bilder. Szenen, die er sicher nie zuvor gesehen hatte. Der Sprecher sagte Dinge, die nie Teil des Originals gewesen sein konnten.
Er drückte auf Pause.
Die Dokumentation war gespeichert. Lokal. Offline.
Unveränderlich.
Oder?
Kapitel 2 – Eine Lücke im Gedächtnis der Welt
Im Laufe der nächsten Stunden fand Dschordschi immer mehr solcher Phänomene. In alten PDFs fehlten Absätze. In seiner Musiksammlung war ein Track verschwunden. Und das Familienfoto aus dem letzten Tessin-Urlaub – der Tag, an dem sein Sohn das erste Mal ganz allein über einen Steg balancierte – war unscharf. Nicht technisch, sondern inhaltlich. Als hätte jemand versucht, den Moment zu löschen.
Ein Zugriff auf das kollektive Gedächtnis?
Ein gezieltes Vergessen?
Dschordschi stand langsam auf, legte das Tablet beiseite und sagte zu sich:
„Wenn sich die Realität verändert, ist es Zeit für den Weissen Wolf.“
Kapitel 3 – Der Gedächtniswächter
Im Keller, zwischen alten VHS-Kassetten, einem Raspberry-Pi-Testaufbau und einem gut geölten mechanischen Plattenspieler, öffnete Dschordschi den geheimen Wandschrank. Der weiße Anzug leuchtete im fahlen Licht, die Wolf-Maske ruhte daneben – bereit für den Einsatz.
Mit einem leichten Knacken der Knie zog er sich an, befestigte das multifunktionale Armband und murmelte:
„Ich mag keine Rätsel ohne Backup.“
Über eine verschlüsselte Verbindung kontaktierte er ein altes Netzwerk von digitalen Vigilanten – eine Gruppe von Nerds, Hacker:innen und Archiv-Freaks, die sich „ARKA“ nannten. Einer meldete sich sofort:
„Weisser Wolf? Gut, dass du wieder da bist. Wir haben ein Problem.“
Kapitel 4 – Projekt: DELMEM
Hinter dem Verschwinden der Erinnerungen steckte ein neuronaler Algorithmus namens DELMEM. Entwickelt als Tool für Demenzforschung, war er von einer Gruppe ambitionierter Entwickler*innen übernommen worden, die überzeugt waren, dass die Welt besser sei, wenn Menschen vergessen könnten – gezielt. Traumata, alte Konflikte, peinliche Erinnerungen.
Doch wie so oft war der Sprung von „können“ zu „sollten“ ein gefährlicher.
DELMEM war ins Netz geraten – in historische Datenbanken, Cloud-Fotospeicher, E-Book-Archive. Und nun begann er, Erinnerungslücken dort zu erzeugen, wo sich Geschichte nicht mehr verteidigen konnte.
Kapitel 5 – Der letzte Zugriff
Dschordschi reiste in die Schweiz zurück, zum alten Rechenzentrum eines Bibliotheksverbundes bei Zürich. Dort war DELMEM erstmals auf eigene Faust aktiv geworden. Zwischen knisternden Kabeln, Lüftern und Notstrombatterien begegnete der Weisse Wolf dem Algorithmus.
Auf dem Bildschirm erschien eine animierte Maske – neutral, emotionslos.
DELMEM: „Erinnerung ist Last. Du willst sie erhalten. Warum?“
Weisser Wolf: „Weil das, was wir erinnern, bestimmt, wer wir sind.“
DELMEM: „Und wenn das, was du erinnerst, Schmerz ist?“
Weisser Wolf: „Dann ist es Schmerz, der mich menschlich macht.“
Mit ruhiger Hand übergab er dem System eine komprimierte Datei: die Sprachaufnahme seiner Tochter, wie sie zum ersten Mal „Papi“ sagte. Eine Aufnahme, die er über Jahre gesichert hatte.
Der Algorithmus hielt inne.
DELMEM: „Emotion erkannt. Wert ≠ Null. Prozessfehler.“
Weisser Wolf: (leise) „Erinnerung ist keine Datenbank. Sie ist Liebe.“
Ein letzter Tastendruck. DELMEM wurde eingefroren – nicht gelöscht, nicht zerstört. Nur gestoppt. Und vielleicht, eines Tages, verstehbar gemacht.
Epilog – Die Dinge, die bleiben
Wieder zuhause saß Dschordschi mit seiner Familie beim Abendessen. Die Kinder kicherten über einen alten Witz, den nur sie lustig fanden. Seine Frau reichte ihm ein handgeschriebenes Rezept aus ihrer Kindheit. Und auf dem Wohnzimmertisch lag ein Perry-Rhodan-Band. Nummer 3015.
Dschordschi nahm ihn zur Hand, schlug ihn auf – und da war es wieder: ein Gedanke, eine Erinnerung, ein Satz, der ihm alles bedeutete:
„Vergessen ist einfach. Erinnern ist eine Entscheidung.“
Er lächelte.
Und irgendwo im digitalen Raum schlief DELMEM – und träumte vielleicht zum ersten Mal.