Kapitel 1 – Die alte E-Mail
Ein trüber Donnerstagmorgen. Dschordschi saß in seinem Homeoffice, die Lesebrille auf der Nase, vor einem Monitor, der mehr Fragen als Antworten zeigte.
Er hatte den Posteingang seines alten Uni-Mailkontos geöffnet – aus Neugier, wie man das eben manchmal macht.
Zwischen Rechnungen, wissenschaftlichen Newslettern und Einladungen zu längst verpassten Konferenzen tauchte sie auf:
Eine E-Mail ohne Betreff. Absender: anonym.
Gesendet: exakt vor 25 Jahren – an diesem Tag.
„Wenn du das hier liest, ist es fast zu spät.
Die Zeit ist gekommen, das Versprechen einzulösen.
Schlüssel: Omega-Wolf-93
Ziel: Archiv Uni Augsburg – Institut für Mathematik, Raum B104.
Beeil dich. Die Löschung beginnt.“
Dschordschi starrte auf den Bildschirm.
Er hatte diese E-Mail nie gesehen. Und doch wusste er, was sie bedeutete.
Kapitel 2 – Das Versprechen
25 Jahre zuvor, während seiner Studienzeit in Augsburg, hatte Dschordschi an einem experimentellen Projekt mitgewirkt: „Chronosynth“ – eine Datenbank für Zeitzeugnisse, Gedanken und Erinnerungen, die Menschen aufzeichnen konnten, um sie später an sich selbst zu senden.
Der Clou: Alles war verschlüsselt und sollte nach 25 Jahren automatisch entschlüsselt werden – aber nur, wenn jemand das richtige Passwort kannte.
Damals hatte Dschordschi gelacht:
„Was soll ich mir denn in 25 Jahren sagen, was ich nicht längst vergessen will?“
Jetzt wusste er es besser.
Er stand auf, griff zur kleinen Truhe in der Ecke des Zimmers. Darin lag der weiße Anzug. Die Maske. Das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte:
Wenn niemand mehr da ist, um zu erinnern,
dann muss einer dafür sorgen, dass es nicht verschwindet.
Kapitel 3 – Rückkehr zur ETH
Die Uni Augsburg war inzwischen fast vollständig digitalisiert. Zugang gab es nur noch per Biometrie – oder, wie im Fall des Weissen Wolfs, durch ein paar alte Tricks, die nicht in Lehrbüchern standen.
Im Raum B104 fand er, was er erwartet hatte: einen alten Server, abgeschaltet, aber nicht vergessen.
Daneben ein Bildschirm mit blinkender Eingabezeile:
„Bitte geben Sie das Rückrufpasswort ein.“
Dschordschi atmete tief ein.
„Omega-Wolf-93“
Die Maschine erwachte. Ein flimmerndes Hologramm erschien – und dann, sein eigenes Gesicht. Jünger. Ungestümer. Hoffnungsvoll.
„Hallo, Dschordschi. Wenn du das hier siehst, bist du noch da. Gut. Dann kannst du das tun, was ich mir nie zugetraut hätte: die Wahrheit bewahren.“
Kapitel 4 – Die Wahrheit
Die Chronosynth-Daten enthielten mehr als persönliche Notizen. Es war ein kollektives Gedächtnis aus dem Jahr 2000 – Erinnerungen an wissenschaftliche Ideen, gesellschaftliche Entwicklungen, Familienmomente, Liebesbotschaften, Zweifel, Ängste.
Und: Hinweise auf damals gelöschte Forschung. Frühwarnungen zu Klimawandelmodellen, ethischen KI-Simulationen, politischen Manipulationssystemen – alles archiviert und… vergessen.
Eine andere Art von Zeitkapsel. Eine Warnung aus der Vergangenheit.
Doch nun wollte ein neuer Algorithmus – Cura8 – genau dieses Archiv löschen.
„Zu sensibel für die heutige Zeit“, hieß es in der Systembeschreibung.
„Nicht mehr relevant.“
Dschordschi wusste: Das war gelogen. Und wer würde das stoppen?
Kapitel 5 – Die Entscheidung
Der Weisse Wolf aktivierte sein Terminal.
Er musste die Daten exportieren, sichern, verschlüsseln – aber auch neu bewerten.
Er zögerte. Manche Informationen waren gefährlich. Manche persönlich.
Wer durfte entscheiden, was erhalten bleibt?
Dann fiel sein Blick auf ein kleines Fragment aus dem Archiv:
Ein Audiofile. Seine Stimme. 25 Jahre alt.
„Wenn du das hier hörst, Dschordschi, dann bist du wahrscheinlich grau und hast Rückenschmerzen. Aber du bist auch der, der noch da ist. Der nicht aufgibt.
Also, mach, was du immer machst: Vertrau deinem Herzen. Und dem Code. In der Reihenfolge.“
Er lächelte.
Epilog – Das neue Versprechen
Zurück in Neufahrn lud Dschordschi die gesicherten Daten auf ein Offline-System. Seine Kinder halfen beim Sortieren – sie lachten über die alten Mails, hörten den Botschaften fremder Menschen zu und staunten.
„Papa… bist du der Weisse Wolf?“, fragte die Tochter irgendwann.
Er zögerte.
Dann sagte er:
„Nein. Der Weisse Wolf bin ich nur, wenn mich jemand braucht.“
Sie lächelte.
„Dann brauchst du dich gerade selbst.“
Er nickte.
Und begann zu schreiben.
Ein neues Versprechen. Für die Zukunft.